Die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union hat die Arbeitsmärkte verändert und ermöglicht es den Bürgern, für Arbeit dorthin zu ziehen, wo sie die besten Chancen sehen. Doch für Länder wie Bulgarien birgt diese Mobilität eine doppelte Herausforderung: den Brain Drain, also den Verlust von qualifizierten Arbeitskräften, und das Potenzial für Brain Gain, die Rückkehr von Talenten und Wissen. Seit dem EU-Beitritt im Jahr 2007 hat die Arbeitskräftewanderung das Land tiefgreifend beeinflusst und zählt zu den größten sozioökonomischen Herausforderungen.

Das Phänomen Brain Drain in Bulgarien
Bulgarien ist eine der am stärksten vom Brain Drain betroffenen Regionen weltweit. Seit 1990 hat das Land rund 22 Prozent seiner Bevölkerung verloren, und Prognosen deuten auf einen weiteren Rückgang um 23 Prozent bis 2050 hin. Die Bevölkerung ist seit 1989 um über eine Million Menschen geschrumpft, von 7,9 Millionen auf 6,4 Millionen im Jahr 2024. Dieser Rückgang spiegelt sich auch in der jährlichen Bevölkerungsveränderungsrate wider: Wie in Grafik 1 dargestellt, ist diese Rate seit Mitte der 1980er Jahre negativ (1985: -0,08%) und erreichte ihren Tiefpunkt mit -1,21% um das Jahr 1993/1994. Auch 2024 liegt sie noch bei -0,61%, für 2025 wird eine Rate zwischen -0,6% und -0,83% prognostiziert, und bis 2050 wird sie mit -0,89% weiter negativ bleiben. Diese Entwicklung wird maßgeblich durch niedrige Geburtenraten, hohe Sterberaten und vor allem durch die Abwanderung getrieben.

Ursachen der Migration: Der Sog des Westens und interne Probleme
Die Hauptursachen für die Emigration liegen in den erheblichen wirtschaftlichen Disparitäten innerhalb der EU. Bulgaren verlassen ihr Land auf der Suche nach höheren Löhnen, besserer Arbeitsplatzsicherheit und verbesserten Lebensbedingungen im westlichen Europa. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf hat sich zwar von 1.625 US-Dollar im Jahr 2000 auf 17.588 US-Dollar im Jahr 2024 erhöht und wird bis 2030 auf 24.894 US-Dollar prognostiziert, doch die absolute Höhe bleibt im EU-Vergleich attraktiv für Abwanderung.

Die Möglichkeit, für die gleiche Arbeit doppelt so viel zu verdienen, oder sogar für geringer qualifizierte Arbeit mehr zu bekommen, ist ein starker Anreiz. Hinzu kommen interne Probleme wie Korruption, schwache öffentliche Dienste, mangelnde Meritokratie, eine schlechte Work-Life-Balance, fehlende berufliche Weiterbildung und veraltete Arbeitsplatzkulturen, die junge Menschen zur Abwanderung bewegen.
Auswirkungen: Fachkräftemangel und Belastung für die Wirtschaft
Die Auswirkungen des Brain Drain auf Bulgarien sind gravierend: Er führt zu einem Rückgang des Humankapitals, bremst das Wirtschaftswachstum und verringert die Produktivität sowie die Steuereinnahmen. Besonders hart trifft es bestimmte Sektoren: Das Gesundheitswesen ist stark betroffen, mit einem Rückgang der Ärzte von 35.000 auf 28.000 bis 2017. Seit 2007 haben über 15.000 bulgarische Ärzte und 20.000 Krankenschwestern das Land verlassen, da ein Arzt in Deutschland das 5- bis 6-Fache eines bulgarischen Kollegen verdienen kann. Auch der IT-Sektor leidet unter dem Verlust qualifizierter Arbeitskräfte, die in Länder mit besseren Gehältern und Karrieremöglichkeiten abwandern. Insgesamt wird der bulgarischen Wirtschaft bis 2017 ein Mangel von rund 400.000 qualifizierten Arbeitskräften prognostiziert. Dies führt zu einem Mangel an Fachkräften im Bauwesen, Gesundheitswesen, Bildung und Ingenieurwesen.
Profiteur Deutschland: Der „Wohlstandstransfer“
Deutschland profitiert stark von dieser Entwicklung: Es ist das bevorzugte Zielland für bulgarische Migranten. Im Jahr 2024 lebten allein in Deutschland 371.128 bulgarische Staatsbürger, gefolgt von Spanien (112.834) und den Niederlanden (60.494), was die Verteilung in der EU klar aufzeigt.

Viele von ihnen sind überdurchschnittlich gut ausgebildet. Deutschland verzeichnet insgesamt 8,9 Millionen zugewanderte Erwerbstätige. Die Zuwanderung aus osteuropäischen Ländern hat den demografischen Wandel in Deutschland gebremst und zur Fachkräftesicherung beigetragen. Ohne Ärzte aus Osteuropa gäbe es in bestimmten Regionen Deutschlands gar keine medizinische Versorgung mehr. Diese Entwicklung wird oft als „Wohlstandstransfer“ bezeichnet, da Länder wie Deutschland Arbeitskräfte erhalten, in deren Ausbildung sie nicht investieren mussten.
Das Potenzial des Brain Gain für Bulgarien
Trotz der Herausforderungen birgt die Arbeitskräftewanderung auch Chancen für Bulgarien, insbesondere durch den Brain Gain. Dieser kann auf verschiedene Weisen erfolgen: durch die Rückkehr von Bulgaren, die im Ausland neue Fähigkeiten und Wissen erworben haben, oder durch den Transfer von Wissen und Kapital durch die bulgarische Diaspora.
Tatsächlich zeigt sich eine steigende Tendenz zur Rückkehr nach Bulgarien, die insbesondere während der COVID-19-Pandemie zugenommen hat. Daten des National Statistical Institute (NSI) bestätigen einen stetigen Anstieg der Rückkehrer im letzten Jahrzehnt. Bulgarien weist einen hohen Anteil an Zuwanderern auf, die eigene Staatsangehörige sind, was auf eine signifikante Rückkehrmobilität hindeutet. Diese Rückkehrer können neues Wissen, Fähigkeiten und Innovationen in das Land bringen, Netzwerke aufbauen und internationale Kontakte herstellen. Ein wichtiger Aspekt des Kapitaltransfers sind die Rücküberweisungen: Wie in Grafik 5 dargestellt, flossen zwischen 2014 und 2024 jährlich zwischen rund 115 Millionen US-Dollar (im Jahr 2015) und über 420 Millionen US-Dollar (im Jahr 2024) von bulgarischen Migranten nach Bulgarien. Dabei zeigt sich ein signifikanter Anstieg, mit dem Höchstwert im Jahr 2024.

Beispiele erfolgreicher Rückkehrer oder Initiativen, die den Brain Gain fördern, sind entscheidend.
Strategien zur Förderung des Brain Gain
Um den Brain Drain zu minimieren und das Potenzial des Brain Gain voll auszuschöpfen, sind gezielte Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen erforderlich.
Die bulgarische Regierung hat begonnen, Strategien zu entwickeln, die auf die Rückkehr ihrer Bürger abzielen. Die Nationale Migrationsstrategie der Republik Bulgarien (2021-2025) sieht Programme zur Unterstützung von Rückkehrern vor und fördert Kampagnen, die zur Rückkehr ermutigen sollen. Dazu gehören finanzielle Anreize, Unterstützung bei der Jobsuche und Integration sowie die Förderung von Unternehmensgründungen durch Rückkehrer. Ein Schlüsselelement ist auch die Verleihung der bulgarischen Staatsbürgerschaft basierend auf der Abstammung, um die Bindung zur Diaspora zu stärken.
Wichtig ist auch, die Verbindungen zur bulgarischen Diaspora zu stärken, um Wissensaustausch und ausländische Investitionen zu fördern. Auf breiter Ebene müssen die Arbeitsbedingungen und Gehälter im Inland verbessert werden. Investitionen in Bildung und Forschung sowie die Bekämpfung von Korruption und die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit sind ebenfalls unerlässlich, um das Land attraktiver zu machen. Die EU-Kohäsionspolitik spielt hier eine wichtige Rolle, um wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten zwischen den Regionen zu verringern.
Fazit und Ausblick
Bulgarien steht vor der komplexen Aufgabe, den anhaltenden Brain Drain einzudämmen und gleichzeitig das Potenzial der Rückkehrmigration zu nutzen. Das Phänomen des Brain Drain ist direkt auf die bestehenden sozioökonomischen Ungleichgewichte innerhalb der EU zurückzuführen, und obwohl die EU-Institutionen Mechanismen zur Verringerung dieser Disparitäten eingeführt haben, waren diese bisher nur teilweise wirksam.
Ein ganzheitlicher Ansatz, der sowohl Maßnahmen zur Eindämmung des Brain Drain als auch zur Förderung des Brain Gain umfasst, ist entscheidend. Dies erfordert die Zusammenarbeit von Politik, Wirtschaft, Bildungssystem und Zivilgesellschaft in Bulgarien sowie einen Dialog zwischen den Einwanderungs- und Auswanderungsländern. Auch wenn der Brain Drain von Ärzten derzeit kein drängendes Problem ist, könnten in Zukunft innovative Finanzierungsansätze in Betracht gezogen werden, falls Engpässe in Schlüsselberufen auftreten.
Die Rückkehrmobilität könnte eine mögliche Lösung für die demografische Krise Bulgariens sein, obwohl sie seit 2020 abgenommen hat. Mit gezielten politischen Interventionen kann Bulgarien die Vorteile der Migration weiter verbessern und die Risiken reduzieren. Das Land hat das Potenzial, den Brain Drain zu minimieren und vom Brain Gain zu profitieren, wenn es gelingt, attraktive Perspektiven im eigenen Land zu schaffen und die Verbindungen zu seiner im Ausland lebenden Bevölkerung zu stärken.